Herausforderungen
Die Herausforderung dabei ist, dass die meisten Patienten nicht wissen, dass in ihrem Mund ein permanenter mikrobiologischer Kampf stattfindet. Die Kontrahenten sind auf der einen Seite das Ziel, gesunde Zähne und einen gesunden Körper zu erhalten bzw. wieder herzustellen und auf der anderen Seite, als Gegner, Gingivitis und parodontale Erkrankungen.
Wird das empfindliche Gleichgewicht gestört, z. B. durch eine Gleichgewichtsverschiebung des bakteriellen Biofilms im Sinne einer opportunistischen Infektion, be einflusst dieses primär das Entstehen und Fortschreiten der Parodontitis, so die ökologische Plaquehypothese.
Die Parodontitis ist, wie zuvor schon angeführt, eine multifaktorielle Erkrankung. Dabei begünstigen bzw. beschleunigen Risikofaktoren, wie z. B. Rauchen, Stress oder Diabetes mellitus, den negativen Verlauf. Ein stabiles Immunsystem, eine gute Mund - hygiene sowie eine engmaschige Patientenbetreuung können das Krankheitsrisiko mindern. Ob es schließlich zur Progression oder zur Heilung parodontaler Erkrankungen kommt – das entscheiden viele einzelne Faktoren. In jedem Fall beeinflusst der Patient mit seinen Verhaltensweisen, seiner Compliance, den Ausgang des Rennens um seine Gesundheit oder Krankheit entscheidend.
Zielgruppe
Die Zielgruppe ist sehr groß – wir haben viel zu tun! Laut DMS IV leiden 52,7 % der 35- bis 44-Jährigen an einer mittelschweren und 20,5 % an einer schweren Form der Parodontitis. Und das Erkrankungsrisiko nimmt dabei mit steigendem Alter stetig zu! Warumist das so? Erwachsene verlieren heute deutlich weniger Zähne durch Karies als früher. Dies ist zunächst eine grundsätzlich positive Entwicklung, die aber auch ein höheres parodontales Erkrankungsrisiko dieser „älteren“ Zähne mit sich bringt.
Dabei muss konstatiert werden, dass Gingivitis und Parodontitis keine schicksalhaften Folgen des Älterwerdens sind. Paro - dontale Erkrankungen können bei den meis ten Patienten durch regelmäßige zahn - ärztliche Untersuchungen und eine unterstützende Parodontitistherapie (UPT) gestoppt und im weiteren Verlauf kontrolliert werden (Abb. 1). Voraussetzungen hier für sind:
- Früherkennung
- professionelles Risikomanagement
- konsequente Mitarbeit des Patienten.
Risikominimierung
Ein gesunder Mund senkt die Risiken für allgemeine Erkrankungen. Wir wissen, dass nicht behandelte Parodontalerkrankungen in vielfältigen Wechselbeziehungen zur Allgemeingesundheit stehen. Das bekannteste Beispiel ist Diabetes mellitus. Epidemiologische und klinische Studien belegen zudem eine Assoziation mit einer Vielzahl verschiedener Allgemeinerkrankungen, wie beispielsweise:
- Arteriosklerose
- Herzinfarkt
- Schlaganfall
- Rheumatoide Arthritis
- erhöhtes Risiko für Früh- oder Fehlgeburten.
Um mögliche irreversible Folgen zu vermeiden, muss eine Parodontitis frühzeitig erkannt werden. Risikofaktoren müssen innerhalb eines parodontalen Risikomanagements evaluiert und hinsichtlich ihrer möglichen gesundheitsschädlichen Auswirkungen bewertet werden. Ein zentraler Baustein für gesunde orale Verhältnisse ist demnach eine individuell abgestimmte Therapie.
Widerstände
Die größten Hindernisse auf dem Weg zur Mundgesundheit sind unregelmäßige Zahn - arztbesuche und ein mangelndes Risikobewusstsein der Patienten. Gerade in der Anfangsphase verläuft die Parodontitis schmerzfrei und unbemerkt. Durch fehlende Informationen und mangelhafte Aufklärung verlieren Patienten in dieser Phase wichtige Zeit. Das kann zu irreversiblen Schäden mit langfristig nicht kalkulierbaren Folgen führen, die letztlich vermeidbar sind. Die möglichen Gesundheitsgefahren werden dabei nicht selten dramatisch unterschätzt.
Im Kampf gegen Widerstände, im ständigen Wettlauf zwischen Erfolg und Misserfolg, spielt das zahnärztliche Team eine entscheidende Rolle. Es muss im Rahmen einer frühzeitigen und adäquaten Diagnostik sämtliche relevanten parodontalen Parameter erfassen. Eine regelmäßige ausführliche Aufklärung und die individuelle Risikoabschätzung des Patienten müssen sichergestellt werden.
Risikomanagement und die konzeptionelle Umsetzung
Mit einem strukturierten parodontalen Risikomanagement ist es möglich, den Prozess parodontaler Erkrankungen wirkungs - voll zu unterbrechen sowie die Zähne des Patienten zu schützen und langfristig zu erhalten. Dazu ist es notwendig, dass der Patient von Beginn an mit einbezogen wird und Eigenverantwortung für den Behandlungserfolg übernimmt. Der Patient muss die Ätiologie und Pathogenese der Parodontalerkrankungen kennen und den Krankheitsprozess verstehen. Er muss die notwendigen Konsequenzen der Behandlung akzeptieren sowie die Umsetzung in der Zahnarztpraxis und zuhause aktiv und umfassend unterstützen. Für eine erfolgreiche Therapie ist Teamarbeit zwischen Patient und zahnärztlichem Team erforderlich.
Das parodontale Risikomanagement ist dabei als systematischer Prozess zu verstehen, der mit einer umfassenden Anamnese beginnt. In diesem Schritt werden nicht nur die allgemeinen Beschwerden und die Erkrankungen von Zähnen und Zahnfleisch erfasst, sondern auch persönliche und familiäre Dispositionen wie Allergien und Vorerkrankungen. Diese Fakten werden ebenso dokumentiert wie die Einnahme von Medikamenten, Rauchverhalten und sonstige bedeutsame Lebensgewohnheiten.
Aufgrund verschiedener Krankheitsverläufe und Schweregrade der Parodontalerkrankungen haben die Erfassung, die Beurteilung und die regelmäßige Evaluation klinischer Parameter einen besonders hohen Stellenwert. Die Komplexität der Parodontitis macht eine umfangreiche Befunderhebung und eine umfassende Bewertung des individuellen Risikos erforderlich. Einschätzungen auf Grundlage einzelner Parameter werden dieser multifaktoriellen Erkrankung nicht gerecht. Konsequenz daraus ist, dass im Rahmen einer ausführlichen Befunderhebung der parodontale Status des Patienten in regelmäßigen Abständen erfasst wird.
Klinische Parameter und die individuellen Risikofaktoren bilden dabei die Grundlage für die individuelle Risikoeinschätzung des Patienten und der individuell abgestimmten Therapie. Die Befunddokumentation und Einschätzung des parodontalen Risikos können dabei auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Die zahnbezogenen iatrogenen Faktoren wie Furkationsbeteiligung, partieller Attachmentverlust und Lockerungsgrad sowie stellenbezogene Faktoren wie Taschensondierungstiefen und BOP sind für die Beurteilung von patientenbezogenen Faktoren von besonderer Bedeutung. Im Einzelnen: ❚
- BOP (bleeding on probing) .Erhoben wird hier der Anteil der Stellen in Prozent, die bei der Sondierung des Sulkusbodens geblutet haben (sechs Messpunkte pro Zahn). Dieser Wert ist ein Maß für die subgingivale Entzündung. Zu berücksichtigen ist, dass Nikotin die Blutungsneigung signifikant vermindert.
- Gesamtzahl der residualen Taschen (Sondierungstiefe > 4 mm). Pathologisch vertiefte Zahnfleischtaschen weisen auf eine subgingivale Entzündung hin. Die Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung einer Parodontitis steigt mit der Anzahl der über 4 mm tiefen Zahnfleischtaschen (Abb. 2). Parodontaler Knochenabbau, Zahnverlust Knochenabbau in Relation zum Lebensalter und Zahnverlust weisen als Indikatoren auf ein erhöhtes Parodontitisrisiko hin.
- Patientenverhalten und allgemeingesundheitliche Verhältnisse
- Rauchen
- Systemische und genetische Faktoren (Diabetes mellitus, Leukämie, Autoimmunerkrankungen, Candidiasis, Herpesviruserkrankungen, Schleimhautpemphigoid, familiäre Neutropenie, Interleukin-1-Polymorphismuskomplex)
- Medikamente (Antiepileptika, Immunsuppressiva, Kalziumantagonisten).
- Mundhygiene/Patientencompliance. Das Vorhandensein von Plaqueakkumulation oder marginaler Entzündung ist zwar kein Risikofaktor im eigentlichen Sinne, lässt aber Rückschlüsse auf die Compliance des Patienten zu; daher sollten regelmäßig Mundhygieneindizes erhoben werden, z. B. API.
- Möglichkeit des Blutzucker - screenings (Blutzuckertest). Parodontitis und Diabetes sind weit verbreitete chronische Erkrankungen, die in einer bidirektionalen Beziehung S. Fresmann, Der tägliche Wettlauf gegen Gingivitis und parodontale Erkrankungen – Können Patienten dieses Rennen gewinnen? stehen. Diabetes begünstigt Entstehung, Progression und den Schwere - grad einer Parodontitis; Parodontitis erschwert die glykämische Kontrolle des Diabetes und erhöht das Risiko diabetesassoziierter Komplikationen. Die Zahnarztpraxis kann ein Screening - ort für Diabetes und Prä-Diabetes sein. Bei Bedarf wird ein Arztbesuch mit weitergehender Diagnostik empfohlen. Je nach individuellem Risiko kann der Patient einer von drei Risikogruppen (Abb. 3) zugeordnet werden. Eine farbliche Darstellung der Gruppen (Ampelfunktion) kann der zusätzlichen optischen Orientierung dienen. Die Skalierung der Parameter erfolgt dabei in die Stufen „niedriges“ (grün), „mittleres“ (gelb) und „hohes“ Risiko (rot). Hieraus lassen sich Empfehlungen für individuelle Recallfrequenzen und Therapiemaßnahmen ableiten:
- niedriges Risiko 1 x/Jahr
- mittleres Risiko 2 x/Jahr
- hohes Risiko 3-4 x/Jahr
In einem jährlichen Intervall sollte eine erneute Risikoeinstufung (Evaluation) durchgeführt werden; so können Behandlungserfolg und Krankheitsverlauf stets neu beurteilt werden. Auf Grundlage dieser regelmäßigen – positiven oder negativen – Risikoeinstufung können weitere Behandlungsschritte, Maßnahmen zur Verbesserung der Patientencompliance sowie Recallabstände individuell angepasst werden. Damit entspricht dieses stetig angepasste und dynamische System den Erfordernissen und Anforderungen eines patientenorientierten Risikomanagements. So können Veränderungen schnell festgestellt und frühzeitig behandelt werden. Bei „Gingivitis-Patienten“ kann die Erkrankung durch die regelmäßige professionelle Zahnreinigung stabilisiert oder geheilt werden. Bei „Parodontitis-Patienten“ können, bei individuell abgestimmter und konsequenter Durchführung der unterstützenden PA-Therapie, die parodontalen Verhältnisse langfristig stabilisiert und der Patientenmund entzündungsfrei gesund gehalten werden.
Eine Sonderstellung in dem Konzept nimmt der Neupatient ein. Bei umfangreichem Zahnstein ist es manchmal schwierig, eine exakte Befunderhebung und Diagnostik bereits in der ersten Sitzung durchzuführen. Zunächst sind erst einmal die Voraussetzungen für eine Befunderhebung und Diagnostik zu schaffen. Ein bis zwei professionelle Zahnreinigungen inkl. Politur der Füllungen und Motivierung/Instruktion des Patienten können dazu erforderlich sein. Nach etwa vier bis sechs Wochen kann dann die umfassende Befunderhebung mit Auswertung durch den Zahnarzt erfolgen. Anhand dieser Daten kann der Patient anschließend in das Recall eingestuft oder eine aktive Parodontitistherapie begonnen werden.
Kommunikative Überzeugungsarbeit: „Wie sage ich es meinem Patienten?“
Bei der Vielzahl der zu erhebenden Parameter ist eine gute Verlaufsdokumentation essentiell für eine individuelle und zielgerichtete Patientenführung. Zudem dient sie der Qualitätssicherung von Behandlungsabläufen innerhalb der zahnärztlichen Praxis. Des Weiteren bereitet es vielfach Probleme, den Patienten verständlich und überzeugend zu informieren. Nur ein gut aufgeklärter und überzeugter Patient, der die Befunde und Konsequenzen versteht und akzeptiert, wird dauerhaft mitarbeiten.
Hierzu kann eine Visualisierung der erfassten Befunde sowie des individuellen parodontalen Risikos hilfreich sein. Dabei steht dem zahnärztlichen Team zur Dokumentation der Befunderhebung eine Vielzahl computergestützter Programme zur Verfügung. Als besonders benutzerfreundlich hat sich das durch die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie zertifizierte Programm „ParoStatus.de“ (Abb. 4) bewährt. Hiermit können alle erhobenen Befunde – anamnestische und klinische Parameter – systematisch und übersichtlich dokumentiert werden. Dies erlaubt jederzeit eine Verlaufs- und Erfolgskontrolle der Parodontitistherapie. Ergänzend können sowohl das individuelle Erkrankungsrisiko als auch eine empfohlene Recallfrequenz und mögliche weiterführende Therapievorschläge abgeleitet werden.
Das „ParoStatus.de“-System liefert für die weitere Aufklärung eine patientengerechte Aufbereitung der erfassten Daten. Dem Patienten kann ein Ausdruck seiner erhobenen Befunde, seines persönlichen Erkrankungsrisikos sowie der individuell abgestimmten Recallfrequenz mit nach Hause gegeben werden. Empfehlungen für den weiteren Behandlungsablauf und die vorgeschlagenen individuellen Recallabstände werden so für den Patienten transparent und nachvollziehbar. Zudem kann er eine abgestimmte Handlungsempfehlung für seine persönliche häusliche Mundhygiene erhalten. Dies kommt einerseits dem Bedürfnis der Patienten nach einer verständlichen Information entgegen, andererseits wird dadurch die zielgerichtete Kommunikation in Beratungs- und Behandlungssituationen deutlich erleichtert. Ein patientenverständliches parodontales Risikomanagement kann als ernsthafte Chance angesehen werden, den Wettlauf gegen die parodontalen Erkrankungen zu gewinnen.
Fazit
Ein konsequent strukturiert durchgeführtes Risikomanagement ist die Grundlage für ein frühzeitiges Erkennen fortschreiten der parodontaler Erkrankungen und dient der Sicherung des Behandlungserfolges. Erst auf dieser Basis können zielgerichtet Behandlungskonzepte umgesetzt werden, die auch dem parodontal erkrankten Patienten den langfristigen Erhalt seiner Zähne und den Schutz seiner Allgemeingesundheit ermöglichen. Dabei ist es wichtig, den Patienten aufzuklären und ihm seine Eigenverantwortung sowie den gemeinsamen Weg einer erfolgreichen Therapie aufzuzeigen. Hierfür ist ein patientenverständliches und individuell abgestimmtes Risikomanagement essentiell.
Sylvia Fresmann, DH
Deutsche Gesellschaft für DentalhygienikerInnen e. V.
Fasanenweg 14, 48249 Dülmen
E-Mail: Fresmann@t-online.de
Web: www.dgdh.de