Nicht nur, weil Prävention eine immer größere Rolle im Praxisalltag spielt, sondern vor allem weil das diesjährige Präventions-Forum mit ebenso exzellenten Referenten wie hoch aktuellen und deshalb praxisrelevanten Themen überzeugt.
Hoch aktuell sind z. B. die Zusammenhänge zwischen oralen und systemischen Erkrankungen, denen sich Univ.-Prof. Dr. James Deschner, Direktor der Poliklinik für Parodontologie und Zahnerhaltung der Universitätsmedizin Mainz, in seinem Referat „Parodontitis und Diabetes“ widmet. Im nachstehenden Interview gibt Prof. Deschner einen ersten Einblick in ein Thema, das zunehmend in den Fokus jeder Zahnarztpraxis rückt.
pi: Parodontitis ist ein orales Krankheitsgeschehen, ein Diabetes mellitus eine systemische Erkrankung – wie hängen beide zusammen?
Prof. Deschner: Bei einem Diabetes mellitus werden aufgrund des hohen Blutzuckers vermehrt Proteine in unserem Körper verändert, d. h. „glykiert“. Diese veränderten Proteine gelangen auch ins Parodont und können dort eine Gingivitis oder Parodontitis verstärken. Außerdem sind bei einem Diabetes bestimmte Funktionen von Entzündungs- und Knochenzellen defekt, sodass auch dadurch der parodontale Knochenabbau gefördert wird. Es gibt viele weitere Mechanismen, die für den Einfluss der „systemischen“ Erkrankung Diabetes auf das Parodont verantwortlich sind.
Bei einer Parodontitis gelangen wiederum viele Entzündungsmoleküle aus dem Parodont in die Blutbahn und somit zu vielen Organen, Geweben und Zellen des Körpers. Solche Entzündungsmoleküle können zum Beispiel die Aufnahme von Zucker in Körperzellen hemmen, sodass die Entstehung und das Fortschreiten eines Diabetes begünstigt werden. Da also die „lokale“ Erkrankung Parodontitis Einfluss auf den gesamten Körper nimmt, ist streng genommen auch die Parodontitis eine „systemische“ Erkrankung. Die von uns vorgenommene Unterscheidung in „parodontale“ und „systemische“ Erkrankungen ist somit eigentlich falsch.
pi: Steigt das Risiko für eine Parodontalerkrankung mit einem Diabetes oder ist es eher umgekehrt?
Prof. Deschner: Der Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen ist kausal und bidirektional, d. h., beide Erkrankungen bedingen sich gegenseitig. Ein schlecht eingestellter Diabetes führt zu einem erhöhten Risiko für die Entstehung und das Fortschreiten einer Parodontitis. Auch die Therapieantwort ist bei einem schlecht eingestellten Menschen mit Diabetes beeinträchtigt. Im Gegensatz dazu besteht bei einem Diabetes mit guter glykämischer Einstellung (HbA1c ≤ 7) kein erhöhtes Risiko für Parodontitis und die Therapieantwort.
Parodontitis kann auch die Entstehung und Progression eines Diabetes fördern. So kann zum Beispiel ein Prädiabetes durch eine Parodontitis in einen Diabetes übergehen oder ein gut eingestellter Diabetes kann in einen Diabetes mit schlechter glykämischer Einstellung umschlagen.
pi: Wie viele Menschen in Deutschland leiden an beiden Erkrankungen?
Prof. Deschner: Aus der Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS) V wissen wir, dass ca. 50 % der jüngeren Erwachsenen an einer moderaten oder schweren Parodontitis leiden. Bei den jüngeren Senioren*innen liegt der Anteil sogar bei zwei Dritteln. Bezüglich der Parodontalerkrankungen ist zudem zukünftig von einem steigenden Behandlungsbedarf auszugehen. Etwa 10 % der Bevölkerung in Deutschland sind an einem Diabetes mellitus erkrankt, wobei es regionale Unterschiede gibt. Hinzu kommt auch ein gewisser Prozentsatz von Fällen mit Prädiabetes oder unentdecktem Diabetes. Die Häufigkeit des Typ 2-Diabetes ist deutlich höher als die des Typ 1-Diabetes.
pi: Worauf müssen Zahnärzte*innen und ihre Teams achten? Das heißt, was sollten Zahnarztpraxen tun, um eine/n Diabetes-Patienten*in zu erkennen?
Prof. Deschner: Zuallererst sollte in der Anamnese nach einem bestehenden Diabetes mellitus gefragt werden. Der/die Patient*in sollte mitteilen, welcher Diabetes-Typ vorliegt, wie lange die Erkrankung schon besteht, welche weiteren Diabetes-assoziierten Erkrankungen bereits existieren und wie der Diabetes augenblicklich behandelt wird. Der/die Patient*in muss unbedingt nach der augenblicklichen glykämischen Einstellung, d. h. dem HbA1c-Wert, befragt werden. Der HbA1c-Wert, d. h. der Anteil des glykierten Hämoglobins am Gesamthämoglobin, wird alle drei Monate bestimmt und ist daher dem/der Patienten*in bekannt. Kann der/die Patient*in keinen aktuellen HbA1c-Wert angeben, sollte lediglich eine Notfallbehandlung (unter Umständen mit Antibiose) erfolgen. Sobald der aktuelle HbA1c- Wert vorliegt, kann eine systematische Parodontitistherapie erfolgen.
Bei einigen Patienten*innen liegt möglicherweise ein Diabetes vor, der aber noch nicht diagnostiziert worden ist, d. h., die Patienten*innen wissen überhaupt nicht, dass sie an Diabetes erkrankt sind. Insbesondere wenn die Parodontitistherapie trotz guter Mundhygiene nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt hat und weitere Risikofaktoren für Diabetes vorliegen, zum Beispiel Übergewichtigkeit/Adipositas, familiäre Häufung oder bestimmte Erkrankungen/Medikamente, könnte ein unentdeckter Diabetes vorhanden sein. Dem Patienten sollte dieser Verdacht mitgeteilt werden, damit er/sie sich bei seinem/ihrem Hausarzt untersuchen lässt.
Augenblicklich wird diskutiert, ob der Blutzucker auch direkt in der zahnärztlichen Praxis bestimmt werden könnte. Hierbei ist eine Vielzahl verschiedener Aspekte zu beachten, sodass abzuwarten bleibt, ob diese Option zukünftig in Deutschland flächendeckend realisiert werden kann.
pi: Was sind für Sie unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Parodontitis- und Diabetes-Behandlung?
Prof. Deschner: Eine optimale Blutzuckereinstellung ist eine entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Parodontitistherapie und die Aufrechterhaltung des Behandlungsergebnisses. Für die Blutzuckereinstellung ist natürlich der/die behandelnde Arzt/Ärztin maßgeblich, allerdings auch der/die Patient*in, indem er/sie den Therapieempfehlungen des/der Arztes/Ärztin genau folgt, sich gesund ernährt, Sport treibt usw. Zusätzlich ist aber wie bei jedem/r Patienten*in wichtig, dass eine adäquate Mundhygiene praktiziert wird und der/die Patient*in zu den vereinbarten Behandlungs- und Kontrollterminen in der zahnärztlichen Praxis erscheint. Seitens der Praxis ist essenziell, dass parodontologisch gut ausgebildete Mitarbeiter*innen für die Behandlung und Betreuung der Patienten*innen zur Verfügung stehen und ein gut funktionierendes System für die unterstützende Parodontitistherapie (Recall) etabliert ist.
pi: Gibt es spezielle Präventionskonzepte oder präventive Maßnahmen, die dazu beitragen, sowohl die orale als auch die Allgemeingesundheit zu erhalten?
Prof. Deschner: Insgesamt sind oralpräventive Maßnahmen wichtig, um parodontalen und somit auch vielen systemischen Erkrankungen vorzubeugen. Neben der optimalen Mundhygiene mit (zum Beispiel elektrischer) Zahnbürste, Zahnpasta und Interdentalraumpflege (zum Beispiel mit Interdentalraumbürstchen oder Zahnseide), könnten zusätzliche Mundspülungen insbesondere bei älteren Patienten*innen mit eingeschränkter motorischer und/oder kognitiver Funktion hilfreich sein.
pi: Ihr persönlicher Tipp zum Themenkomplex „Parodontitis und Diabetes“ für das Praxisteam?
Prof. Deschner: Klären Sie die Patienten*innen auf, dass Mund- und Allgemeingesundheit eng zusammengehören: An jedem Zahn hängt auch ein Mensch!
pi: Danke für das Gespräch, Herr Professor!