Das Gesundheitswesen spielt in der öffentlichen Diskussion über Treibhausgase bisher kaum eine Rolle. Ein Blick auf die Zahlen und Zusammenhänge zeigt, dass sich das dringend ändern sollte.
Die Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ (Abb. 1), eine Bestandsaufnahme von BARMER und dem F.A.Z.-Institut der Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft erstmals, aus der Innenperspektive von Praxen, Krankenkassen, Kliniken, Apotheken/ Sanitätshäusern und der medizinischen und pharmazeutischen Industrie Licht auf den wichtigen Transformationsprozess zu einem klimaneutralen Gesundheitssektor.
„Vor allem nicht schaden“, primum non nocere, lautet ein jahrtausendealtes Grundprinzip verantwortlicher Medizin. Das ist manchmal leichter gesagt als getan: ein Beispiel ist der CO2-Fußabdruck. In Deutschland beträgt der Anteil des Gesundheitswesens an den gesamten Emissionen von Treibhausgasen 5,2 Prozent und ist damit größer als der Anteil des Flugverkehrs.
Das ist besonders problematisch, weil die Forschung immer klarer die vielfältigen zusätzlichen Gesundheitsrisiken erkennt, die der Klimawandel mit sich bringt. Mit anderen Worten: Die bisherige Klimabilanz des Gesundheitswesens steht im Widerspruch zur Aufgabe des Gesundheitswesens. Das Ziel muss vor diesem Hintergrund ein klimaneutrales Gesundheitswesen sein.
Aber: Erkennen die sehr unterschiedlichen Akteure der Gesundheitswelt die Bedeutung des Klimaschutzes und den eigenen Handlungsbedarf überhaupt schon an? Verstehen sie die Wirkung ihres Handelns und sind sie sich ihrer Möglichkeiten bewusst?
Über 550 Interviews mit Einrichtungen des Gesundheitswesens
Aus Sicht der Barmer ist es wichtig, dass wir das möglichst genau wissen, um Klarheit darüber zu haben, wo wir stehen und was passieren muss. Deshalb hat sie gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut die Studienreihe „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ gestartet.
Im Spätsommer 2022 wurden deshalb erstmals 551 Akteure aus Praxen, Krankenkassen, Kliniken, Apotheken/Sanitätshäusern und der medizinischen Industrie interviewt.
Die gute Nachricht: Das Thema ist bei vielen auf dem Radar
73 Prozent der Befragten aus der medizinischen Industrie bestätigten, dass ihre Organisation sich bereits mit Klimaneutralität beschäftigt hat. Bei Kassen, Krankenhäusern und Apotheken sind es etwa die Hälfte, in Praxen allerdings erst knapp 40 Prozent.
Das zeigt auf den ersten Blick: Wir stehen nicht bei null. Aber es gibt noch viel zu tun. Übrigens: Weder Corona noch der Ukraine-Krieg konnten die Relevanz des Themas Klimaneutralität schmälern, sind sich über 85 Prozent der Befragten sicher. 37 Prozent sagen sogar, dass die Relevanz aufgrund des Ukraine-Kriegs eher noch gestiegen ist.
Die noch bessere Nachricht: Starke Mehrheit sieht erhebliches Potenzial
Etwa jeder Vierte findet, dass der Beitrag des eigenen Hauses zum Klimafortschritt bereits groß oder sehr groß ist. Doppelt so viele, mehr als jeder Zweite, finden, dass dieser eigene Beitrag noch größer oder noch viel größer sein könnte. Für das gesamte Gesundheitswesen sehen sogar über 70 Prozent noch großes oder sehr großes Potenzial.
Worauf es jetzt ankommt
Bei den Antrieben für Bemühungen um klimaneutrales Wirtschaften sind die Top five: Gesellschaft, Unternehmenskultur, Kostenvorteile, Gesundheitsförderung/Prävention sowie Mitarbeitenden- und Bewerber-erwartungen. Dem stehen Kostengründe als häufigstes Hindernis entgegen, gefolgt von einschränkender Infrastruktur, fehlenden Produkt-Alternativen, ungeklärten Zuständigkeiten und fehlendem Know-how.
Ein zentrales Problem zeigt sich darin, dass erst 13 Prozent zumindest in weiten Teilen Einblick in den CO2-Fußabdruck ihrer Lieferkette haben. 3 Prozent haben diesbezüglich nahezu vollständige Transparenz, aber bei 68 Prozent fehlt dieser Einblick weitgehend oder vollständig. Es ist klar, dass hier dringend mehr Transparenz benötigt wird, um gezielt handeln zu können.
Nur 3 Prozent der Befragten denken, dass klimaneutrales Arbeiten zu Kosten- und Wettbewerbsnachteilen führt. Dennoch trauen nur 11 Prozent dem deutschen Gesundheitswesen zu, bis 2030 klimaneutral zu sein.
Die Erklärung für diesen Pessimismus könnte darin liegen, dass über die Hälfte der Befragten beklagt, dass es für die Klimaneutralität im Unternehmen oft keine klare Verantwortlichkeit gibt. Und ebenfalls fast die Hälfte der Befragten hält einen gesetzlichen Rahmen für dringend erforderlich.
Ausblick: Gemeinsame Agenda benötigt
„Vor allem nicht schaden“ ist den Menschen im Gesundheitswesen also auch in Sachen Klima wichtig. Der Handlungsbedarf, so zeigt die Studie, wird mehrheitlich anerkannt.
Es wird jedoch auch sichtbar, dass die wichtigsten Akteure des Gesundheitswesens aufgrund vieler Hindernisse, fehlenden Know-hows und unzureichender Vernetzung bisher zu wenige konkrete Maßnahmen umsetzen.
Für die kommenden Jahre sind sowohl Fortschritte bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen notwendig als auch geeignete Initiativen und Bündnisse, um den Ball schnell genug ins Rollen zu bringen und so unerwünschte Nebenwirkungen des Gesundheitswesens deutlich zu reduzieren.
QUELLE: Barmer