Kind umarmt lachende Frau mit Kopftuch

Prätherapeutische Prävention bei Onkologie-Patienten (Teil 1)

Onkologische Behandlungen haben oft orale Begleiterscheinungen zur Folge. Doch wie ist in der zahnärztlichen Praxis mit dem profunden Krankheitsbild umzugehen und wie können Patienten bei diesem beschwerlichen Weg unterstützt werden?

Die Onkologie ist ein Bereich in der Medizin, der sich mit der Behandlung von malignen Erkrankungen beschäftigt. Mögliche Behandlungsoptionen der onkologischen Therapie sind Operation, Bestrahlung, medikamentöse Behandlung (z. B. Chemotherapie, Hormontherapie, Immuntherapie) und unterstützende Behandlungen wie z. B. Schmerztherapie. Häufig wird eine Kombination dieser Therapiewege gewählt. Für die Patienten bedeuten sie auch eine kurz- oder langfristige Einschränkung der Lebensqualität.Das Themenfeld der Onkologie ist in Bezug auf die Mundgesundheit äußerst umfassend und kann in diesem Artikel natürlich nicht vollständig abgedeckt werden. Er soll deshalb insbesondere Prophylaxefachkräften eine Hilfe bieten, Patienten prätherapeutisch zu beraten und auf den kommenden beschwerlichen Abschnitt in ihrem Lebensweg vorzubereiten. Ein weiteres wichtiges Risikofeld der Antiresorptiva (dazu zählen z. B. Bisphosphonate und Denosumab) sowie ein Resümee werden in einem zweiten Teil des Beitrags in prophylaxe impuls Ausgabe 4/2021 thematisiert.

 

    Empathie und Einfühlungsvermögen sind gefragt

    Der Hauszahnarzt sollte über die bevorstehende Therapie des Patienten unterrichtet werden (1), damit sie bzw. er die Gelegenheit hat, sich umfassend über potenzielle Nebenwirkungen und Prophylaxemöglichkeiten aufklären zu lassen. Die Prophylaxefachkraft (DH/ZMP/ZMF) kann durch unterstützende Maßnahmen und gezielte Aufklärung den kommenden Therapieweg begleiten. Hier sind, angesichts der akut bevorstehenden Belastung des Patienten, große Empathie und Einfühlungsvermögen gefragt, denn oft werden zahnmedizinische Themen bei einer bevorstehenden Tumorbehandlung als unbedeutend empfunden.

    Eine sogenannte adjuvante (begleitende) Chemo- oder Strahlentherapie wird durchgeführt, um die Zellteilung des Tumors zu stören und somit das Tumorwachstum und eine mögliche Metastasierung (Streuung) zu verhindern. Größte Beachtung muss dem Risiko einer Osteoradionekrose gewidmet werden, welches mit der Strahlendosis
    steigt, die auf den Knochen eingewirkt hat. Bei Strahlendosierungen über 70 Gray ist mit einer erheblichen Zunahme
    des Risikos zu rechnen. Das höchste Risiko besteht bei Patienten, deren Unterkiefer mit einer hohen Strahlendosis belastet wurde und bei denen nach der Bestrahlung die Extraktion eines im bestrahlten Kieferbereich befindlichen Zahnes erfolgen muss. Je nachdem, wie gezielt eine Bestrahlung durchgeführt werden kann oder wie hoch dosiert eine Chemotherapie angewendet werden muss, können folgende andere orale Nebenwirkungen auftreten:

    • Mukositis
    • Geschmacksverlust
    • Verlust der Kau- und Schluckfunktionen
    • Radioxerostomie
    • Strahlenkaries
    • Beeinträchtigungen an Speicheldrüsen und Kieferknochen.

     

    Unterkieferfrontzähne einer 67-jährigen Patientin
    Unterkieferfrontzähne einer 67-jährigen Patientin mit einem Zustand nach Teilresektion eines Adenokarzinoms am Zungenrand. Im Laufe der Tumorresektion wurden sowohl Teile der Unterzungen-Speicheldrüsen und die Lymphknoten des Unterkiefers und des Halses entfernt (sog. Neck Dissection). Die Patientin konsumierte vermehrt gezuckerte Getränke (Smoothies, Säfte). Zusammen mit der Hyposalivation aufgrund der fehlenden Speicheldrüse bildete sich innerhalb weniger Wochen nicht mehr restaurierbare< Zahnhalskaries in den Zwischenräumen der Unterkieferfrontzähne © Dr. D. Hagenfeld, UKM Abteilung für Parodontologie und Zahnerhaltung


     

    Oberkieferfrontzähne einer 67-jährigen Patientin
    Oberkieferfrontzähne derselben Patientin: Es zeigten sich ebenfalls stark gerötete schmerzempfindliche Schleimhautareale. Der Befund erinnert stark an eine Mukositis. Es fand jedoch keine adjuvante Strahlentherapie statt. Die histologische und immunologische Kontrolle ergab einen oralen lichen planus, der sich als Folge oder unabhängig zu der Tumorbehandlung gebildet hatte. Aufwändige Implantat-Suprakonstruktionen erschwerten die häusliche sowie die professionelle Plaquereduktion © Dr. D. Hagenfeld, UKM, Abteilung für Parodontologie und Zahnerhaltung

     

    Strahlen- und Chemotherapie

    Chemotherapeutika hemmen das Zellwachstum und die Zellteilung des Tumors. Sie wirken auf erkranktes Gewebe ebenso wie auf gesunde Zellen und besonders auf solche Zellen, die sich oft teilen. Die Mundschleimhaut und auch die Speicheldrüsen bestehen aus schnellteilenden Zellen, deshalb ist das Risiko für Begleiterscheinungen in diesen Arealen erhöht. Eine Mukositis ist eine Nebenwirkung der Chemotherapie, die im gesamten Verdauungstrakt auftreten kann, von Mund, Rachen, Speiseröhre bis zur Schleimhaut des Afters. Durch die beschädigte Schleimhaut entstehen Eintrittspforten für Mikroorganismen, es können Infektionen entstehen, insbesondere unter dem Einfluss der herabgesetzten Immunabwehr. Die Radioxerostomie ist ebenfalls eine mögliche Begleiterscheinung, insbesondere bei Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich.

    Das Risiko der Begleiterscheinungen ist abhängig von der Gesamtdosis der Therapie. Als Prophylaxefachkraft ist es fast nicht möglich, einen Überblick über die differenzierenden onkologischen Therapien zu bekommen. Unabhängig davon profitiert der Patient von einer umfangreichen prätherapeutischen Mundhygieneinstruktion. Der Patient soll zu einer intensiven Mundhygiene unter Strahlentherapie motiviert und dahingehend unterwiesen werden (1).

    In der Beratung sollte der Fokus auf der Vermeidung von Strahlenkaries liegen und auf Handlungsoptionen einer möglicherweise

    entstehenden oralen Mukositis (OM). Da eine Mukositis sehr schmerzhaft sein kann und somit die Lebensqualität stark beeinflusst, sollte in diesem Kontext auch beachtet werden, dass unter Umständen sogar das onkologische Therapieziel gefährdet sein kann.

     

    Empfehlungen vor Beginn der Therapie

    • Schonende Aufklärung und Vorbereitung über mögliche orale Begleiterscheinungen
    • Durchführen einer prätherapeutischen professionellen mechanischen Plaquereduktion (PMPR)
    • Instruktion eines Mundhygieneprogramms bei möglicher oraler Mukositis (OM)
    • Fluoridprogramm zur Prävention von Strahlenkaries
    • Empfehlungen bei möglicher Xerostomie: Individuell hergestellte Medikamententrägerschienen abends mit Fluoridgel füllen und für ca. drei bis fünf Minuten tragen, danach nicht ausspülen
    • Bei Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich sollten dentale Strahlenschutzschienen (mind. 3 mm Dicke) angefertigt werden.

    Die Eingliederung eines Schleimhautretraktors soll immer dann erfolgen, wenn von relevanter lokaler  Dosisüberhöhung (z. B. bei Schleimhautkontakt von Metall oder Zirkonoxid-Keramik) ausgegangen werden kann (1). Das heißt, dass die therapeutische Strahlung von Keramiken oder metallischen Restaurationen reflektiert werden kann und damit in besonderer Weise die umliegenden Gewebe verletzt. Der Retraktor kann die Schleimhäute von den Restaurationen fernhalten und somit eine Überdosierung reduzieren.

     

    Mukositis

    Eine Mukositis entsteht häufig als Nebenwirkung einer Strahlen- und/oder Chemotherapie. Nicht jeder Patient bildet bei einer onkologischen Therapie eine Mukositis aus. Bei einer Bestrahlung im Kopf-Hals-Bereich ist das Risiko aber sehr hoch.

    Klinisch ist eine atrophische Schleimhaut zu erkennen, diese ist sehr schmerzhaft für den Patienten. Weitere Symptome:

    • Schmerzen
    • Brennen
    • Schluckbeschwerden
    • Eingeschränkte Nahrungsaufnahme
    • Geschmacksverlust
    • Eingeschränkte Mundöffnung
    • Eingeschränkte Zungenmobilität
    • Erschwertes Sprechen.

    Ein erhöhtes Risiko für orale Mukositis besteht bei schlechter Mund- und Prothesenhygiene sowie bei Xerostomie. In der Anamnese können Risikofaktoren für eine bestehende medikamenteninduzierte Hyposalivation bereits erfasst und beim intraoralen Befund kann eine Mundtrockenheit erkannt werden (geringe Speichelfließrate, Spiegel bleibt an Mundschleimhaut kleben).

    Patienten mit Krebserkrankungen werden während der onkologischen Therapie engmaschig von Pflegekräften und/oder Fachärzten betreut, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist wichtig. Eine prätherapeutische Beratung der Prophylaxefachkraft kann den Behandlungsweg positiv beeinflussen. Orale Mundpflegeprotokolle sollten begleitend zur Therapie der oralen Mukositis fortgeführt werden (2). Der Zustand der OM sollte regelmäßig überprüft und protokolliert werden, was nach der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation, CTC: Common toxicity criteria; RTOG: Toxizitätskriterien der Radiation Therapy Oncology Group, möglich ist.

     

    Empfehlungen zur Mundhygiene

    Ziel der Mundpflege ist es, die Wirkungen von Mikroorganismen zu verringern, therapiebedingte Symptome wie Schmerz oder Blutungen zu reduzieren und Weichteilinfektionen mit systemischen Komplikationen zu vermeiden (2).

    Es empfiehlt sich vor Beginn der onkologischen Therapie, eine PMPR durchzuführen. In diesem Zusammenhang kann auch ein Plaquebefund mittels Plaquerevelatoren erhoben werden, um den Patienten individuell zu instruieren, ebenso motiviert er für eine effiziente häusliche Mundhygiene. Empfehlungen für die häusliche Mundhygiene bei Mukositis:

    • Mindestens zweimal täglich Zähne putzen mit weicher Zahnbürste und milder fluoridhaltiger Zahnpasta
    • Mindestens einmal täglich Interdentalhilfsmittel (und wenn notwendig weitere Hilfsmittel wie Monobüschelbürstchen)
    • Mehrmals täglich Mundspüllösungen (ohne Alkohol, Zucker oder sonstige Zusätze)
    • Hochfluoridhaltige Produkte sind zu empfehlen (wie z. B. die rezeptpflichtige Duraphat-Zahnpasta mit 5.000 ppm Fluoridanteil)
    • Prothesenpflege mit Bürste und Spülmittel; bei Beschwerden auf empfindlicher Schleimhaut empfiehlt sich ein nur kurzfristiges Tragen. Bakterien und Pilze auf Prothesenoberflächen können bei trockener extraoraler Lagerung abgetötet werden.

     

    Fluoridprophylaxe und Ernährung

    Die Fluoridierungsprophylaxe sollte mittels Applikatorschienen durchgeführt werden (1). Diese haben den Vorteil, dass das Fluoridgel über eine längere Zeit gezielt auf die Zahnoberfläche aufgetragen wird, ohne dabei das Zahnfleisch zu stark zu beeinflussen. Bei einer Hyposalivation können Fluoridgele möglicherweise nicht die komplette Wirkung entfalten. Für den Alltag können bei Mundtrockenheit Speichelstimulationen empfohlen werden, wie z. B. zuckerfreie Bonbons und Kaugummis.

    Regelmäßige Mundspülungen sollten alle Patienten mit einem Risiko für OM prophylaktisch durchführen. Dies kann mit Wasser oder NaCl 0,9 % erfolgen. Der Nutzen anderer Inhaltsstoffe ist nicht belegt, eine Empfehlung kann nicht erfolgen (2). Grundsätzlich ist der Nutzen von Mundspülungen/Mundbefeuchtung eindeutig erwiesen. Mit NaCl 0,9 % hat man eine physiologische Lösung, die häufig eingesetzt wird und sicher ist. Sie kann daher ebenso empfohlen werden wie Wasser (2).

    Zur Mundspülung mit Salbeilösung oder Salbeitee konnten bislang keine klinischen Studien bei durch Chemotherapie induzierter Mukositis gefunden werden (2). Auch zu anderen Phytotherapien gibt es keine ausreichende Evidenz, um eine klare Empfehlung aussprechen zu können, ein negativer Effekt ist nicht zu erwarten.

    Manchmal kann eine Kryotherapie Linderung verschaffen, beispielsweise durch das Lutschen von Eiswürfeln oder mit gekühlten Formen der oben genannten Spüllösungen.

    Der Geschmackssinn der Patienten kann sich durch die Therapie verändern. Durch die Beeinträchtigung der Geschmacksknospen auf der Zunge schmecken viele Lebensmittel dann oft fad oder ungesüßt. Dadurch werden möglicherweise vermehrt süße zuckerhaltige Lebensmittel gespeist. Die Patienten von einer zuckerreduzierten Ernährung zu überzeugen, ist in diesem Lebensabschnitt besonders heikel und kann sie eventuell weiter frustrieren. Bei Schmerzen und erschwerter Nahrungsaufnahme muss gegebenenfalls die Ernährung auf eine hochkalorische breiartige Kost umgestellt werden. Bei schwerer Mukositis und sogenannter Tumorkachexie – dem rapiden Gewichtsverlust durch eine Tumorerkrankung – ist jegliche Nahrungsaufnahme als Erfolg zu verbuchen. Bei gleichzeitig vermindertem Speichelfluss kann die hochkalorische und kariogene Nahrung über längere Zeit an der Zahnoberfläche haften

    und Bakterien haben mehr Zeit, diese Stoffe abzubauen und mit Säuren den Zahnschmelz anzugreifen. Unter besonderer Rücksicht auf die Situation des einzelnen Patienten sollte die Prophylaxefachkraft Verständnis zeigen und versuchen, den Patienten mit präventiven Mitteln zu unterstützen. Eine erhöhte lokale Fluoridierung, um entstehender Karies entgegenzuwirken, ist zwingend notwendig. Bei Patienten mit erhaltenem Zahnschmelz soll die Anwendung topischer Fluoride auf Schmelz lebenslang durchgeführt werden (1).

    In der Praxis können regelmäßig hoch dosierte Fluoridlacke aufgetragen werden. Als Basisfluoridierung sollte zum Kochen fluoridhaltiges Speisesalz empfohlen werden oder das Lutschen von Fluoridtabletten kann ebenfalls eine Maßnahme sein.

    Fortsetzung in prophylaxe impuls 4/2021.

    DH Christin Damann
    46414 Rhede Tel.: 02872/932917
    E-Mail: christin.damann@gmx.de

    Dr. Daniel Hagenfeld
    Fachzahnarzt für Parodontologie Universitätsklinikum Münster Abteilung für Parodontologie und Zahnerhaltung Tel.: 0251/83-45092
    E-Mail: Daniel.hagenfeld@ukmuenster.de

     


    Literaturverzeichnis

    1. Empfehlung 7, S2k-Leitlinie: Infizierte Osteoradionekrose (IORN) der Kiefer AWMF-Registernummer: 007/046.
    2. Leitlinienprogramm Onkologie | S3-Leitlinie Supportive Therapie | Version 1.3 | Februar 2020, S3 Leitlinie Supportive Therapiebei onkologischen PatientInnen Langversion 1.3 – Februar 2020 AWMF-Registernummer: 032/054OL.