Im Rahmen des 5. Prophylaxesymposiums von CP GABA am 16. und 17. Juni d. J. in Düsseldorf griff Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß (Institut für Geschichte, Theorie & Ethik der Medizin an der RWTH Aachen; Abb. 1) ein für den Praxisalltag hoch aktuelles Thema auf: In seinem Referat machte er bewusst, welche Chancen und Herausforderungen eine kultursensible Zahnmedizin für ein multikulturelles Patientenklientel mit sich bringt. Am Rande des Symposiums hatte prophylaxe impuls Gelegenheit, mit dem approbierten Arzt und Zahnarzt, Medizinethiker und Philosophen ein Interview zu führen.
Welche Bereiche der Zahnmedizin und der zahnmedizinischen Versorgung subsumieren Sie unter einer „kultursensiblen Zahnmedizin“?
Prof. Groß: Ausnahmslos alle Bereiche der Zahnheilkunde. Besonders wichtig ist ein „kultursensibler“ Blick aber im Bereich Prävention und Prophylaxe, weil hier der Grundstein für eine möglichst lebenslange Zahngesundheit gelegt wird. In diesem Bereich ist die Situation leider besonders herausfordernd:Migranten und Personen mit Migrationshintergrund sind durchschnittlich schlechter über bestehende Angebote im Bereich der Prophylaxe und über gesundheitsfördernde Leistungen informiert und sind andererseits im Sektor der Notfallversorgung überrepräsentiert. Letzteres macht deutlich, dass Kontakte zu (Zahn)ärzten häufig erst dann gesucht werden, wenn akuter Handlungsbedarf besteht. Dazu passt auch, dass Kinder von Eltern mit ausländischer Staatsbürgerschaft im Durchschnitt eine mehr als doppelt so hohe Kariesprävalenz zeigen wie deutsche Altersgenossen.
Was bedeutet dieser Begriff für die tägliche Arbeit in einer Zahnarztpraxis?
Prof. Groß: „Kultursensible Zahnmedizin“ bedeutet, offen und empfänglich zu sein für etwaige besondere Bedarfe von Patienten, die aus anderen Kulturräumen stammen. Das schließt auch Personen mit ein, die selbst keine Migranten sind, aber einen Migrationshintergrund aufweisen.
Was ist notwendig, um die Chancen zu erkennen und zu nutzen bzw. die Herausforderungen anzunehmen und zu meistern?
Prof. Groß: Zunächst einmal muss die innere Einstellung stimmen. Damit meine ich die grundsätzliche Bereitschaft, Patienten mit Migrationshintergrund mit ihren möglichen Eigenheiten anzunehmen. Wichtige Aspekte hierbei sind Aufmerksamkeit, Offenheit, Vorurteilslosigkeit und die Bereitschaft zur Kommunikation: Sie ist das wichtigste Instrument, um Falschannahmen und Fehleinschätzungen zu erkennen und auszuräumen, aber auch um sonstige Barrieren (sprachlicher, sozio-ökonomischer, religiöser, kultureller Natur) zu überwinden.
Zahnärzte und zahnmedizinische Fachkräfte haben meist nur geringe oder gar keine Vorstellung von den kulturellen oder religiösen Barrieren der Menschen mit Migrationshintergrund. Wie sollen sie in der täglichen Praxis mit diesen Barrieren umgehen?
Prof. Groß: Auch hierbei hilft Offenheit und vorurteilsfreie Kommunikation. Wenn man unsicher ist, sollte man einfach nachfragen. Fragen zeigt Interesse an. Nur so kann ich z. B. in Erfahrung bringen, ob ein Familienoberhaupt in Aufklärungsgespräche integriert werden sollte oder ob religiöse Regeln, z. B. Ramadan, befolgt werden, die ihrerseits Rückwirkungen auf das Ernährungsverhalten, die körperliche Belastbarkeit bzw. die Therapietreue des Patienten haben könnten. Oder ob bestimmte in Frage stehende Medikamente, z. B. alkoholhaltige Spüllösungen, akzeptiert werden. Ansonsten ist es wichtig, keine Vorurteile zu haben. Die häufigsten Problem- oder Konfliktsituationen entstehen nämlich durch Stigmatisierung, Ethnisierung und Kulturalisierung: Stigmatisierung geht dabei auf Stigma (von griechisch „stígma“ = Brandmal) zurück und bezeichnet einen gesellschaftlichen Prozess, bei dem Personen bestimmte Merkmale bzw. auffällige Eigenschaften zugeschrieben werden, die eine (potenziell) diskreditierende Wirkung haben. So wird Menschen aus dem anatolischen oder dem Mittelmeerraum häufig pauschal eine besondere Wehleidigkeit unterstellt. Dies zeigt sich in diskriminierenden pseudomedizinischen Begrifflichkeiten wie „Morbus mediterraneus“, „Mamma-Mia-Syndrom“ oder „Anatolische Krankheit“. Ethnisierung und Kulturalisierung meint demgegenüber die kategorische Unterstellung einer ethnisch oder kulturell bedingten Andersartigkeit der Betroffenen – getreu dem Motto: Diese Person entstammt einem anderen Kulturkreis, also verhält sie sich in medizinischen und Alltagsfragen anders als wir Deutschen. Tatsächlich sind die individuellen Unterschiede von Personen eines Kulturkreises zumeist größer als die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Kulturkreise.
Wenn wir es also schaffen, diesen Vorurteilen nicht aufzusitzen, sondern mit offenem Blick und ohne Vorbehalte auf alle Patienten zuzugehen, haben wir die besten Chancen, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen – und eben das ist die wichtigste Voraussetzung für die Kooperation und Therapietreue des Patienten.
Sind es eher Sprachbarrieren oder kulturelle Unterschiede, die bei Menschen mit Migrationshintergrund zu Defiziten in der Mundgesundheit bzw. im Mundgesundheitsverhalten führen?
Prof. Groß: Beides. Grundsätzlich unterscheiden wir sogar vier verschiedene Faktorenkomplexe, die allesamt wichtige Rollen spielen: (1) migrationsspezifische Faktoren – hier wären Verständigungsschwierigkeiten anzusiedeln, (2) kulturspezifische Faktoren – hierzu zählen z. B. kulturspezifische Schamgefühle oder abweichende Erklärungsmodelle für die Entstehung von Krankheiten, (3) krankheitsspezifische Faktoren – so kommen Karies und Vitamin-DMangelkrankheiten unter Migranten eindeutig häufiger vor als in der einheimischen Bevölkerung – und (4) soziale Faktoren. Mit letzteren ist gemeint, dass Migranten oft einen eingeschränkten finanziellen Gestaltungsrahmen, geringere Bildungsstandards und ein schlechteres Integrationsniveau aufweisen.
Da vor allem vorhandene Präventionsangebote von Familien mit Migrationshintergrund nur unzureichend in Anspruch genommen werden, welche Chancen geben Sie einer Gruppenprophylaxe z. B. in Kitas oder Schulen?
Prof. Groß: Sie sind ausgesprochen wichtig, weil sie die Kinder barrierefrei in Kontakt mit zahnärztlicher Prävention bringen – unabhängig davon, ob die Eltern derartige Präventionsangebote wahrnehmen und unterstützen oder nicht.
Sehen Sie Problematiken bei männlichen Angehörigen aus männlich dominierten Kulturen dadurch, dass fachliche Empfehlungen in Deutschland häufig von Frauen (DHs, ZFAs, Zahnärztinnen ...) durchgeführt werden? Wenn ja, welche?
Prof. Groß: Absolut. Für manche Männer ist es nicht leicht, von Frauen Instruktionen zu erhalten oder medizinisch unterwiesen zu werden. Das sollte aber nicht dazu führen, dass die betreffenden Frauen mit Unsicherheit oder gar Schuldgefühlen reagieren: Wer nach Deutschland einwandert, darf eine respektvolle und wertschätzende Behandlung erwarten. Er muss aber auch zu Zugeständnissen bereit sein und ebenfalls „kultursensibel“ sein. Die grundsätzliche Gleichbehandlung von Mann und Frau ist in unseren Breiten ein zentraler gesellschaftlicher Wert – und der ist nicht in Frage zu stellen. Hier dürfen wir also unsererseits eine entsprechende Toleranz- und Anpassungsbereitschaft erwarten.
Welchen besonderen Rat haben Sie Ihrem Auditorium heute mit auf den Weg gegeben?
Prof. Groß: Jeden Patienten zuvorderst als Individuum und nicht als Angehörigen einer Ethnie oder als Vertreter eines Kulturraums oder einer Religion anzusehen und entsprechend offen auf ihn zuzugehen. Und bei Zweifeln und Unsicherheiten das tun, was wir auch bei deutschen Mitbürgern täten: Nachfragen und Missverständnisse kommunikativ ausräumen.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Groß!