Es ist geradezu ein Pflichttermin für die präventionsorientierte Zahnarztpraxis und ihr komplettes Team. Nicht nur, weil Prävention eine immer größere Rolle im Praxisalltag spielt, sondern vor allem weil das diesjährige Präventions-Forum mit ebenso exzellenten Referenten wie hoch aktuellen und deshalb praxisrelevanten Themen überzeugt.
pi sprach mit Univ.-Prof. Dr. Stefan Zimmer, Leiter der Abteilung für Zahnerhaltung und Präventive Zahnmedizin sowie des Departments für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universität Witten/Herdecke, über sein Referat „Mythen und Realität der häuslichen Zahnpflege“, mit dem der renommierte Wissenschaftler und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (DGPZM) das 5. Präventionsforum der HARANNI ACADEMIE eröffnet.
Sie eröffnen das Präventionsforum mit „Mythen und Realität der häuslichen Zahnpflege“. Warum ist das Thema so wichtig?
Prof. Zimmer: Weil die häusliche Mundhygiene die weltweit am häufigsten ausgeübte und damit wahrscheinlich auch die wichtigste Präventionsmaßnahme in der Zahnmedizin überhaupt ist, dabei aber leider vieles falsch gemacht wird. Es lohnt sich also, hier genau auf die richtigen Maßnahmen und die richtigen Produkte zu schauen und das zu empfehlen, was einerseits wissenschaftlich gut belegt ist, andererseits aber für die Menschen, unsere Patienten, auch zu Hause umsetzbar ist.
Wie entstehen eigentlich solche „abergläubischen“ Vorstellungen?
Prof. Zimmer: Diese Frage lässt sich nicht mit einem Satz und auch nicht einheitlich beantworten. Man mag es kaum glauben, aber zum Teil handelt es sich um Empfehlungen, die aus einer Zeit stammen, als Wissenschaft in der Zahnmedizin noch keine große Rolle gespielt hat. Ein Beispiel: Als um 1700 die erste Zahnbürste entwickelt wurde, orientierte man sich an einem Besen, der miniaturisiert wurde. Diese Form wurde fast 300 Jahre wissenschaftlich kaum hinterfragt. Eine andere Quelle sind falsche Analogieschlüsse. Häufig wird gedacht, dass eine Zahnbürste, die sanft zum Zahnfleisch ist, auch sanft zu den Zähnen ist. Das ist aber falsch. Und zu guter Letzt gibt es Dinge, die zwar theoretisch und unter streng kontrollierten Bedingungen zutreffend sind, in der Realität aber ungeeignet, weil der Faktor Mensch zu wenig Berücksichtigung findet. Ein Beispiel hierfür ist die Bass-Technik, die kaum korrekt umgesetzt wird, weil sie zu kompliziert ist.
Sind es eher „Großmutters Überlieferungen“ oder auch unseriöse Werbeversprechen, die zu realitätsfernem Glauben führen?
Prof. Zimmer: Es ist beides. An Großmutters Überlieferungen glauben wir gerade in der heutigen hoch technisierten Welt wieder gerne. Wir denken oft, dass solche Überlieferungen etwas Natürliches, also Nachhaltiges, beinhalten und schon deshalb gut sind. Das ist aber meistens falsch. Die überlieferten Empfehlungen mögen ihre Berechtigung zu einer Zeit gehabt haben, als es noch keine wissenschaftlich geprüften und effiziente Produkte und Verfahren gab. Und um zum zweiten Teil Ihrer Frage zu kommen: Natürlich darf man nicht jedem Werbeversprechen glauben. Man sollte immer wissenschaftliche Belege einfordern. Andererseits halten sich massiv überzogene Werbeversprechen in unserer Zeit auch nicht mehr lange, denn es gibt klare Regeln gegen den unlauteren Wettbewerb, sodass irreführende Werbung meist schnell eingestellt werden muss. Das haben wir gerade in jüngster Zeit erlebt.
Gibt es aus Ihrer Sicht Präventionsbereiche, in denen Mythen besonders häufig vorkommen oder gar Schäden verursachen können?
Prof. Zimmer: Aus meiner Sicht kommen diese Mythen fast nur im häuslichen, also dem „unprofessionellen“ Bereich vor. In der Praxis geht es in der Regel professionell zu. Dort wird sehr viel stärker auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse gehandelt.
Gehört der populäre Spruch „An apple a day keeps the doctor away” auch zu den falschen Vorstellungen?
Prof. Zimmer: Ein Apfel ist sicher ein sehr gesunder Bestandteil unserer täglichen Ernährung und ich selbst esse tatsächlich auch jeden Tag zwei Äpfel. Aber ich glaube nicht, dass ich dadurch dauerhaft auf ärztliche Unterstützung verzichten kann. Und was den Zahnarzt angeht, von dem ist ja in der von Ihnen zitierten ursprünglichen Fassung des Satzes gar nicht die Rede, gilt dieser Satz sicher nicht. Der Apfel enthält über 10 % Zucker und viel Säure, wirkt also kariogen und erosiv. Aber trotzdem ist er durch seine Vitamine und Ballaststoffe eine deutlich bessere Zwischenmahlzeit als ein Schokoriegel. Und wir dürfen natürlich bei unseren Ernährungsempfehlungen nicht nur an die Zähne denken, sondern müssen die Gesundheit des ganzen Menschen im Auge behalten.
Wir leben in einer so aufgeklärten Welt – wie kommt es, dass sich Aberglaube oder Volksglaube immer noch hält?
Prof. Zimmer: Von Aberglauben will ich hier nicht sprechen, dafür bin ich kein Experte. Das gehört ja in den Bereich des Okkultismus. Aber wir denken heute oft, dass es für alles, was wir beruflich tun, eine wissenschaftliche Grundlage gibt. Das stimmt leider nicht. Vieles beruht doch noch auf Überlieferung und Einschätzung. Aber die wissenschaftliche Zahnmedizin arbeitet mehr denn je daran, vorhandene Wissenslücken zu schließen und Glauben durch Wissen zu ersetzen.
Besteht die Gefahr, dass durch die sozialen Medien neue Mythen „geboren“ werden?
Prof. Zimmer: Ja, das kann sein. Aber dieses Risiko gab es immer schon. Ich denke nur, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit heute viel höher ist. Andererseits kann man durch die modernen Medien der Kommunikation auch sehr viel schneller gegensteuern. Ein Beispiel ist für mich die im Zuge des absolut begrüßenswerten Trends zu mehr Nachhaltigkeit im Internet und den sozialen Medien verbreitete Empfehlung, Zahnpasta nach alten Hausrezepten selbst herzustellen. Diese Empfehlung erlebte einen richtigen Boom, aber ich glaube, es ist den Menschen auch recht schnell klar geworden, dass das ein ziemlicher Unsinn ist, der sogar schädlich und gesetzeswidrig sein kann, z. B. wenn selbst angemischte Zahnpasten in Zahnarztpraxen abgegeben werden.
Wie lassen sich in der Zahnarztpraxis Mythen am besten entzaubern?
Prof. Zimmer: Mythen haben meistens mehr Strahlkraft als schlichte wissenschaftlich belegte Wahrheiten. Aber ich glaube, dass wir alle als Kinder unserer Zeit doch wissen, dass die Wissenschaft heutzutage die Grundlage unseres Handelns sein muss. Fragen des Glaubens nehme ich natürlich aus. Auch und gerade die aktuelle Corona- Krise zeigt uns das. Wir und unsere Politiker richten sich sehr rational nach dem, was die Wissenschaft uns vorgibt. Und wir sehen, dass es wirkt. Zu Zeiten der großen Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert hat man noch versucht, der Krankheit durch obskure Maßnahmen Herr zu werden, z. B. durch die Empfehlung, Fenster nur nach Norden zu öffnen.
Ihr persönlicher Rat zum Mythos Zahnputzzeit: Was empfehlen Sie – zwei oder drei Minuten Zähneputzen?
Prof. Zimmer: Weder noch. Jeder muss so lange putzen, bis die Zähne sauber sind. Daher empfehle ich eine individuell bestimmte Zahnputzzeit.
Danke für das Gespräch Herr Professor Zimmer!