Bestimmung des Gehalt an Streptococcus mutans und Laktobazillen im kindlichen Speichel mit dem Karies- ScreenTest.

MIH – die (immer noch) große Unbekannte

Es gibt Erkrankungen, die Ärzten und Wissenschaftlern Rätsel aufgeben. Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) zählt dazu.

Prof. Dr. Dr. Norbert Krämer © KZV Hessen

Ein Update zum derzeitigen Kenntnisstand gab Prof. Dr. Dr. Norbert Krämer, Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Justus-Liebig-Universität Gießen, anlässlich eines gemeinsamen Pressegesprächs der BARMER und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Hessen (KZV Hessen) am 29. Juni 2020 in Frankfurt.

Bei der MIH handelt es sich um eine systemisch bedingte Strukturanomalie primär des Schmelzes, welche an einem bis zu allen vier ersten bleibenden Molaren und häufig auch an den bleibenden Frontzähnen auftritt. Zunehmend sind auch die zweiten Milchmolaren von dieser Fehlstrukturierung betroffen. Klinisch fällt die unterschiedliche Ausprägung der Erkrankung auf. Die Mineralisationsstörung kann sich dabei auf einen einzelnen Höcker beschränken oder aber die gesamte Oberfläche der Zähne betreffen.

Die milde Form der MIH zeigt eher weiß-gelbliche oder gelb-braune, unregelmäßige Opazitäten im Bereich der Kauflächen und/oder Höcker. Die schwere Form der Zahnentwicklungsstörung weist abgesplitterte oder fehlenden Schmelz- und/ oder Dentinareale unterschiedlichen Ausmaßes auf.


Schweregrad C – Schwere Form der MIH

  • Posteruptiver Schmelzeinbruch
  • Schmerzanamnese, ggf. zusätzlich Karies
  • Defekte atypische Restauration
  • Ästhetische Beeinträchtigung

Schwere Form der Zahnentwicklungsstörung © Prof. Dr. Dr. N. Krämer


Beeinträchtigung der Lebensqualität erfordert therapeutisches Eingreifen

Charakteristisch ist, dass die betroffenen Molaren häufig recht empfindlich auf mechanische, thermische und chemische Reize sein können. Erklärt wird dies durch eine chronische Entzündung (Reizung) der Pulpa, bedingt durch die erhöhte Porosität des Schmelzes mit andauernder Einwirkung von obigen Noxen. Die betroffenen Patienten klagen über Schmerzen beim Trinken, Essen und Zähneputzen. Das beeinträchtigt die Lebensqualität der jungen Patienten und erschwert die Behandlung beim Zahnarzt. Trotzdem ist in diesen Fällen ein schnelles therapeutisches Eingreifen dringend geboten. Die Art der Behandlung hängt von dem Grad der Erkrankung ab. Dies gilt als Grundlage für das neu entwickelte Würzburger MIH-Konzept (MIH-Treatment Need Index) und soll Zahnärzten als Handlungsanweisung zur angemessenen Versorgung der kleinen Patienten dienen.

„Bezogen auf die Mundgesundheit und die Lebensqualität der Kinder ist MIH mittlerweile ein größeres Problem als Karies in dieser Altersgruppe“, so Prof. Krämer. „Wenn bereits Milchzähne von der Erkrankung betroffen sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch die bleibenden Zähne MIH haben, um rund 11 % erhöht.“

Schwankende Prävalenz-Angaben

Die Erkrankung wurde in dieser Form erstmals vor 1987 von G. Koch beschrieben. Die Literaturangaben zur Prävalenz der MIH schwanken sehr. In Abhängigkeit von Studien und Bewertungskriterien sind Häufigkeiten zwischen 3,6 % und 37 % zu finden. Aktuelle Studien aus Deutschland zeigen, dass im Durchschnitt etwa 10-15 % der Kinder an MIH leiden. Die letzte DMS V-Studie zur Mundgesundheit aus dem Jahr 2016 berichtet über knapp 30 % (!) der zwölfjährigen Kinder, die diese Strukturanomalie haben. „Aufgrund der Prävalenz muss MIH als neue Volkskrankheit bezeichnet werden“, so Prof. Krämer.

Das Würzburger MIH-Konzept – der MIH-Treatment Need Index (MIH-TNI)

Teil des Würzburger MIH-Konzeptes (MIH-Treatment Need Index) © Prof. Dr. Dr. N. Krämer

Ätiologie weitestgehend ungeklärt

Die Ätiologie der MIH muss bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt als weitgehend ungeklärt angesehen werden. Da die Schmelzentwicklung der ersten Molaren und der Inzisivi zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, muss die Störung auch in dieser Zeitspanne aufgetreten sein. Diskutiert wird ein multifaktorielles Geschehen. Als potenzielle Ursachen kommen Probleme während der Schwangerschaft, Infektionskrankheiten, Antibiotikagaben, Windpocken, Einflüsse durch Dioxine sowie Erkrankungen der oberen Luftwege in Betracht. Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung scheinen Weichmacher aus Kunststoffen zu spielen, die mit der Nahrung aufgenommen werden: Aufgrund von Tierversuchen konnte ein Zusammenhang zwischen dem Bisphenol A-Konsum und der Entwicklung von MIH nachgewiesen werden. Die Ursachenforschung für die Erkrankung ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen.

Appell an Eltern und Erziehende

„Zwar wissen wir über die Ursachen für die MIH nach wie vor wenig“, ergänzte Stephan Allroggen, Vorstandsvorsitzender der KZV Hessen. „Was wir aber wissen: Mit frühzeitiger zahnärztlicher Vorsorge können auch ‚Kreidezähne‘ erhalten werden. Umso wichtiger ist es, Eltern frühzeitig über MIH zu informieren und ihnen zu empfehlen, was sie tun können.“

Martin Till, Landesgeschäftsführer der BARMER Hessen, sagt mit Blick auf den kürzlich veröffentlichten BARMER Zahnreport 2020: „Die sogenannten Kreidezähne sind eine besondere Herausforderung für die Zahngesundheit. 2018 waren laut Report 5 % der hessischen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren von MIH betroffen; das sind mehr als 19.800 Personen. Wir appellieren deshalb an Eltern und Erziehende, die vorgesehenen Routineuntersuchungen für Kinder und Jugendliche noch stärker zu nutzen, um frühzeitig Erkrankungen und Entwicklungsstörungen im Zahn-, Mundund Kieferbereich zu erkennen.“

Forschung und Aufklärung dringend erforderlich

Damit die Mineralisationsstörung keine „große Unbekannte“ bleibt, ist Forschung dringend erforderlich. Solange die MIH nicht verhindert werden kann, konzentriert sich der Schutz der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen auf die Aufklärung der Eltern und den Erhalt der betroffenen Zähne. Mit der Mundgesundheit hängen viele soziale Faktoren zusammen: Ist sie schon in einer frühen Lebensphase beeinträchtigt, hat das negative Folgen für die kindliche Entwicklung, den Schulerfolg und das Sozialverhalten. Damit betroffene Kinder unbeschwert aufwachsen, lernen und spielen können, sind ein frühes Erkennen und eine individuelle Behandlungsstrategie für die MIH entscheidend.